Dritte Orte – neue Formate und Netzwerke in der Stadtentwicklung
Initiative „Gemeinsam für das Quartier“ stellt ihre Ansätze beim Bundeskongress Nationale Stadtentwicklungspolitik vor
Der Soziologe Ray Oldenburg definierte „Dritte Orte“ als identitätsstiftende Sozialräume, zusätzlich zum ersten Ort, dem Zuhause, und dem zweiten Ort, der Arbeit. Im Bereich der Stadtentwicklung können Dritte Orte durch aktivierende Formate und Netzwerke entstehen und Strahlkraft für ganze Quartiere entwickeln. Was solche „neuen“ Dritten Orte ausmacht und welche Relevanz sie für Innenstädte, die Transformation von Großimmobilien, kreative urbane Ökosysteme und Wohnquartiere haben, haben die Vernetzungsinitiative „Gemeinsam für das Quartier“ und ausgewählte Partner bei einem Side-Event mit rund hundert Besucher:innen am 12. September 2023 beim Bundeskongress Nationale Stadtentwicklungspolitik in Jena vorgestellt. Für die Umsetzung der Vernetzungsinitiative zeichnen der Deutsche Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung e.V. (DV) und Prof. Reiner Schmidt verantwortlich. Sie wird gefördert durch das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (BMWSB) im Rahmen der Nationalen Stadtentwicklungspolitik. Im Zentrum der Initiative steht das Zusammenbringen von etablierten (u.a. Stadtverwaltungen, Immobilienwirtschaft) und kulturell-kreativen Akteuren (z. B. Stadtmacher:innen, Zivilgesellschaft), zu Gunsten einer gemeinwesenorientierten eigendynamischen Stadtentwicklung.
Neue Dritte Orte in der Stadtentwicklung –Definition und Erfolgskriterien
„Meiner Meinung nach sind Dritte Orte wichtig für unsere Städte und Regionen, weil dort Menschen zusammenkommen – und zwar auch solche, die sonst nicht in Kontakt miteinander treten. Gelungene Dritte Orte sollten in meinen Augen konsumfreie Räume der Begegnung sein“, äußerte Lilian Krischer vom DV zum Einstieg ihre persönliche Einschätzung als Repräsentantin der jungen Generation. Anschließend gab Prof. Reiner Schmidt einen Überblick über die Vielfalt Dritter Orte in der Stadt- und Ortsentwicklung – vom Buswartehäuschen auf dem Land, über den Kulturkiosk bis hin zu großen innerstädtischen Bibliotheken mit großen öffentlichen Austausch- und Aufenthaltsflächen nach skandinavischem Vorbild. Zudem stellte er die sieben Erfolgskriterien vor, die die Vernetzungsinitiative für neue Dritte Orte in der Stadtentwicklung herausgearbeitet hat: Demnach sollten sie Orte der Begegnung (1) und Entfaltung (2) sein sowie Bottom-up und Top-down-Ansätze vereinen (3). Weiterhin sind sie geprägt durch eine Nutzungs- und Funktionsmischung (4), sind mit ihrem Umfeld und weiteren Dritten Orten vernetzt (5) und bringen Gemeinwesenorientierung und Wirtschaftlichkeit zusammen (6). Entscheidend ist zudem, dass sie von Intermediären oder einem Community-Management organisiert sind (7). Anschließend erzählte Stephan Mayer vom BMWSB, dass der Bund Dritte Orte unterstützt, etwa durch die Städtebauförderung. Er hob hervor, dass für gelungene Dritte Orte aber nicht nur die bauliche „Hardware“ wichtig sei, sondern auch die „Software“, also soziale und Netzwerkaspekte. Entscheidend sei zudem eine enge Zusammenarbeit mit dem Quartiersmanagement, das Zulassen von Experimenten sowie eine Verstetigung solcher Ansätze.
Wie werden Großimmobilien zu Dritten Orten?
Großimmobilien, wie etwa leerstehende innerstädtische Kaufhäuser, sind Identitätspunkte für Städte und ihre Menschen. Eine Nachnutzung mit gemischten Nutzungen und einem Fokus auf Gemeinwohl bringt häufig vielfältige Herausforderungen mit sich: Wie kann den unterschiedlichen Anforderungen der Akteure in der Entwicklung Rechnung getragen werden? Wie lassen sich Wirtschaftlichkeit und Gemeinwesenorientierung vereinen? Welches Betriebsmodell ist am besten geeignet? Bei einem ersten Panel tauschten sich Pia Feldkamp, Kommunikation und Kooperation im CORE Oldenburg, Matthias Seiler, Bereichsleitung Stadtentwicklung und Städtebau bei der Stadt Offenbach am Main und Christoph Vogt, Geschäftsführer der Städtischen Entwicklungsgesellschaft Aachen (SEGA) zu ihren unterschiedlichen Erfahrungen in dem Bereich aus.
Mischkonzept und Community-Building in Oldenburg
Das CORE in Oldenburg entstand in einem ehemaligen Hertie in Oldenburg. Der Architekt und Unternehmer Alexis Angelis kaufte das bereits länger leerstehende Gebäude von der Investmentgesellschaft Black Stone, die die Immobilie loswerden wollte, und entwickelte mit Unterstützung einer lokalen Investorengruppe – jedoch ohne öffentliche Fördergelder – das CORE als neuen Kern der Stadt, das Büros, Einzelhandel, Veranstaltungsflächen, Coworking und einen Marktplatz mit Essensständen vereint. Das Ziel: ein Raum, wo sich Arbeitende und Privatleute aus allen Branchen und Bereichen treffen, sich vernetzen und ausleben können. Das CORE trägt sich über ein Mischkonzept; Einnahmequellen sind die Gastronomie, die Vermietung und das Coworking; auch Partnerschaften machen neben Investorengeldern einen großen Teil des Finanzkonzeptes aus. „Das Community Management ist wahnsinnig wichtig“, erklärte Pia Feldkamp: „Das betrifft das Marketing, aber es geht auch darum, aktiv Menschen anzusprechen, vor allem solche, die noch nicht beachtet werden in der Stadt: etwa Kinder, da haben wir eine Kletterecke und viel Platz. Und wir machen auch viele Formate nur für Frauen, etwa After Work, das ist im Nordwesten relativ neu. Wir sind darauf angewiesen, dass Leute kommen, dass wir und unser Angebot in der Stadtgesellschaft ankommen. Dafür braucht man ein Team, dass das lebt und Teil der Community ist.“
Die Menschen müssen sich Dritte Orte aneignen: „Station Mitte“ in Offenbach
In Offenbach möchte die Stadt im Rahmen ihres Innenstadtkonzeptes die derzeit in Innenstadtrandlage befindliche Stadtbibliothek als neue „Station Mitte“ ins Zentrum umsiedeln – als Dritten Ort par excellence. „Ein Merkmal für Dritte Orte ist meiner Meinung nach eine gewisse Aneignung. Schon jetzt gehen viele Schüler nachmittags in die Bibliothek und machen sie zu ihrem Ort, einen Ort, den sie zu Hause so nicht haben. Daran möchten wir mit der ‚Station Mitte‘ anknüpfen“, so Matthias Seiler. Derzeit läuft eine Machbarkeitsstudie. Basierend darauf muss die Politik entscheiden, ob die „Station Mitte“ in eine ehemalige Karstadt-Immobilie umgesiedelt oder in ein Einkaufszentrum integriert werden soll. „Wir arbeiten an einem neuen Versprechen: Die Innenstadt soll leben. Die ‚Station Mitte‘ soll ein Ort für lebenslanges Lernen, für Kultur und Veranstaltungen werden“, sagte Seiler. Aktuell müssten sie sich noch in Geduld üben, bis der politische Entscheidungsfindungsprozess abgeschlossen sei.
Dritter Ort, der auf Umfeld ausstrahlt: Mögliches Haus der Neugier Aachen
Christoph Vogt erzählte vom „Haus der Neugier“ das in Aachen entweder in einem ehemaligen Horten-Kaufhaus oder im derzeitigen VHS-Gebäude am Busbahnhof entstehen könnte. Er berichte „aus der Werkstatt“, so der SEGA-Geschäftsführer, da eine Entscheidung bislang nicht gefallen sei – dies sei auch die große Herausforderung eines solchen Vorhabens: Überzeugungsarbeit bei der Politik leisten. „Ziel eines Hauses der Neugier wäre es, verschiedene Themenfelder in einem Gebäude zu vereinen und zudem Stadtbibliothek und Volkshochschule zusammenzubringen und nicht mehr isoliert zu betrachten“, sagte Vogt. Beide Institutionen zögen glücklicherweise an einem Strang. „Das Erdgeschoss sollte offen sein und die Menschen neugierig machen.“ Insgesamt erhoffe sich die Stadt, dass davon die östliche Innenstadt profitiert, die derzeit noch eine Problemlage ist. „Wir erhoffen uns einen Dritten Ort, der auf das Umfeld ausstrahlt.“ Allerdings müssten dafür auch um die 80 Millionen Euro investiert werden.
Kreative Ökosysteme gestalten: Beispiele aus Witten, Regensburg und Berlin
Im anschließenden Panel wurde das Zusammenspiel zwischen Dritten Orten und unterschiedlichen Communities und Milieus sowie zwischen Dritten Orten, Zivilgesellschaft, lokaler Wirtschaft und Kommune beleuchtet: Wie gehen aktivierende Stadtentwicklung, Kulturförderung und Kreativwirtschaftsförderung in kreativen Ökosystemen zusammen? Und braucht es für dieses Zusammenspiel intermediäre Akteure?
Verschiedene Sprachen sprechen: Wiesenviertel Witten
Im Wiesenviertel in Witten kommen viele verschiedene Communities und Generationen zusammen. Gleichzeitig gibt es auch viele Menschen in intermediären Rollen, die hier tätig sind und die laut Joscha Denzel „viele unterschiedliche Hüte aufhaben, da es essenziell ist, die Sprachen der anderen zu verstehen“. Denzel selbst ist Erster Vorsitzender des Quartiernetzwerks „Wiesenviertel e.V.“ und arbeitet gleichzeitig in Teilzeit für das Kulturforum Witten. Bis Anfang dieses Jahres war er zudem beim Verein WERK STADT zur Förderung soziokultureller Freizeit- und Bildungsarbeit tätig. Das Wiesenviertel ist kein „richtiges“ Stadtviertel im traditionellen Sinn. Es wurde vielmehr vor zwölf Jahren als Wortschöpfung geboren, als verschiedene Bewohner:innen und Einzelhändler:innen an einer Straßenkreuzung für eine begrenzte Zeit Pop-up-Stores aufstellten. Daraus entstanden dauerhafte, professionell organisierte gastronomische Angebote, Coworking-Spaces und interkulturelle Aktivitäten wie Nähworkshops – sprich, es entwickelte sich bottom-up ein kreatives Ökosystem. „Wir vom Wiesenviertel e.V. bauen die Strukturen auf: Wir sind gemeinnützig, stellen Infrastrukturen zur Verfügung, wissen, welche Ladenlokale leer stehen und beantragen Fördermittel. Dabei schauen wir, dass möglichst keine Konkurrenzen um die Gelder entstehen, sondern suchen nach Projekten, die verschiedene Initiativen zusammen machen können.“
Regensburg: Brückenbildung nach innen und außen
Das Ökosystem, das in Regensburg entstanden ist, entwickelte sich dahingegen eher top-down und wird vom Kulturamt der Stadt orchestriert, wie dessen Leiterin Maria Lang darlegte. Wie ein solches Vorgehen erfolgreich funktionieren kann, erzählte sie am Beispiel des M26: Die ehemalige Apotheke in der Fußgängerzone, die der Stadt gehört, wurde in Zwischennutzung für ein Jahr von verschiedenen kreativen Akteuren bespielt und hat sich als ein richtiger „Kulturort“ etabliert. Das M26 ist laut seiner „Charta der Zwischennutzung“ ein selbstorganisierter Experimentierort zur Erprobung und Kollaboration, offen für alle, der als Impulsgeber für die Stadt fungiert. Letztere übernahm dabei die Rolle der Prozessentwicklung und Begleitung und sorgte dafür, dass das M26 sowohl in ein lokales Kooperationsnetzwerk aus weiteren Kulturorten eingebunden ist, als auch in landes- und bundesweite Initiativen wie etwa die Vernetzungsinitiative „Gemeinsam für das Quartier“. Das Konzept des M26 war also top-down, aber die Inhalte der Zwischennutzung werden bottom-up gefüllt. „Entscheidend ist eine Brückenbildung innerhalb der Verwaltung zwischen den verschiedenen Abteilungen, aber auch nach außen“, so Lang. Ihre Thesen: Transformation muss in der Verwaltung selbst stattfinden. Und: Kultur hat die Kraft, in der aktivierenden Stadtentwicklung eine Rolle als Initiatorin und Mediatorin zu spielen und den planenden Ämtern unterstützend zur Seite zu stehen. Die Kommunen ihrerseits müssen aber auch das Vertrauen haben, diese Kompetenzen anzunehmen.
Kreatives Ökosystem in einer Großwohnsiedlung am Rande Berlins
Wie können auch Großwohnsiedlungen zu kreativen, zu Dritten Orten werden? Und ist ein „Kreativimport“ in ein solches Umfeld möglich bzw. wie kommt er bei den Anwohnenden an? Darüber berichtete Dr. Pirkko Husemann, Vorstandsvorsitzende der Stiftung Stadtkultur der landeseigenen Berliner Wohnungsbaugesellschaft HOWOGE. Sie erzählte von dem im August 2023 erstmals ausgerichteten Festival „Zusammen zimmern“ in der Berliner Großwohnsiedlung Hohenschönhausen, einem dicht besiedelten Stadtquartier. „Mit Wohnungsnot, Verdichtung und Diversifizierung stehen diese Viertel vor großen Herausforderungen. Wir wussten nicht, ob so ein Festival angesichts dessen angenommen wird“, erzählt Husemann. Dennoch haben sie in dem Quartier am nordöstlichen Rand Berlins tatsächlich ein kreatives Ökosystem vorgefunden: Die Menschen hätten z. B. einen mobilen Bau zur Nutzung gut angenommen, ein Rentner malte dort seine Bilder, jemand anderes beendete in dem Bau ein Kinderbuch – für einige Nutzungen ist in den Wohnungen oftmals einfach kein Platz. Im Ergebnis war die Kunstszene aus Neukölln und Kreuzberg beim Festival vor Ort, aber es wurden genauso viele Menschen aus dem Viertel angesprochen, von denen die Macher:innen nicht erwartet hatten, sie mobilisieren zu können. „Für uns war entscheidend: Wir haben als Stiftung eine intermediäre Rolle und Dritte Orte sind wichtig für die Menschen,“ erzählt Husemann. Das Format hat somit Potenzial. Um dieses zu entfalten, sind aber Räume und Personal auf Dauer notwendig.
Mehr Flexibilität bei Förderung und Verwaltungshandeln notwendig
In der Abschlussdiskussion setzten sich Dr. Timo Munzinger vom Deutschen Städtetag und Stefan Willinger, Stadtforscher beim Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, damit auseinander, was Kommunen tun können, um Dritte Orte zu befördern und welche Hürden es dabei gibt. Auch wenn klar sei, dass kreative Stadtentwicklung ein Innovationsinkubator sein könne, hätte bei den Kommunen in den vergangenen fünf, sechs Jahren eher der Umgang mit den multiplen Krisen im Vordergrund gestanden, erzählte Munzinger. Zudem seien Verwaltungen in Säulen strukturiert, die ein geordnetes Abarbeiten ermöglichen, Projekte zu Dritten Orten jedoch funktionierten anders, nämlich übergreifend.
Stefan Willinger wies darauf hin, dass sich kreative Ökosysteme nicht im Detail von vornherein durchplanen ließen. Besser seien „Masterpläne mit vielen Lücken“, die eine attraktive Zukunftsvision zeichneten, ohne allzu viel festzulegen. Bei der Umsetzung solcher Pläne sei es dann wichtig, Verantwortung zu teilen, einerseits, um Politik und Verwaltung zu entlasten, aber gleichzeitig, um die Bewohnenden aktiv einzubeziehen. Beide waren sich einig, dass es bei der Förderung solcher Vorhaben mehr Flexibilität braucht, um wirklich neue Ansätze überhaupt erst zu ermöglichen und auch ein Scheitern zuzulassen.
Ein offener Punkt bei der Diskussion, der aus dem Publikum aufgeworfen wurde, war die Frage, wie man die Wirkung von Dritten Orten auf Quartiere messen könne. Es wurde klar, dass dies nur situativ abgefragt werden kann, ein Monitoring mit harten Faktoren ist schwierig. Maria Lang schlug eine qualitative Messung vor und warf in den Raum, dass es den Verwaltungen ermöglicht werden müsste, neben ihrem linearen Arbeiten in manchen Bereichen agiler vorgehen zu können. Den Umgang mit diesem Thema wird „Gemeinsam für das Quartier“ in Zukunft weiterverfolgen und Empfehlungen für die Übertragbarkeit von gelungenen Dritten Orten auf andere Kommunen erarbeiten.